Mailand – Cenaconme!
Am Samstagabend findet ein sehr schönes Event in Mailand statt, genauer gesagt ein Abendessen in Form eines Flashmobs, mit präzisem Dresscode, an einem bis zuletzt geheim gehaltenen öffentlichen Ort in der Innenstadt. Das Abendessen heißt Dinner in the Dark, es ist Teil des Kunstprojektes Cenaconme, die italienische Aufforderung “Iss mit mir zu Abend” zu einem Wort gefügt. Zu diesem Anlass habe ich die Mailänder Kunstgaleristin Rossana Ciocca in ihrer Galerie besucht und interviewt. Sie ist die Autorin dieser Idee und zusammen mit Alessandra Cortellezzi hat sie das Projekt ins Leben gerufen und zum Erfolg geführt. Das achte Kapitel Dinner in the Dark ist das letzte Kapitel des Jahres, es wurde dem verstorbenen Architekt und Designer Ettore Sottsass gewidmet. Eines der Leitmotive des Abends ist der Satz von ihm: „Es gibt immer eine Tür zu durchschreiten“. Der Dresscode des Abends ist elegant und total black, ein rotes Detail als Hommage an Ettore Sottsass und seine berühmte rote Schreibmaschine Valentin darf nicht fehlen. Das Sinnbild der Veranstaltung sind die alten Schlüssel der Sant’Ambrogio Kirche, hier fand das letzte Abendessen „Chapeau“ statt. So greifen die einzelnen Elemente ineinander über. Kurz gesagt: Man organisiert sich Tisch und Stühle, ein paar Freunde und los geht’s. Kleine Anmerkung, Mobiliar und Essen müssen selbst mitgebracht werden. Plastik und Papier sind aus Umweltschutzgründen verboten. Goldene Regel: Alles so zurücklassen, wie man es vorgefunden hat, keine Spuren hinterlassen. Die Teilnahme ist offen für alle. Wer mitmachen möchte, informiert sich über die Facebookseite Cenaconme oder man schreibt eine E-Mail an cenaconme@gmail.com.
↑ Cenaconme: “Chapeau” Foto: Roberto Granatiero
Rossana Ciocca im Interview:
Wie ist Cenaconme entstanden?
Das Projekt Cenaconme entstand vor drei Jahren. Grundlage waren einige Überlegungen zum Thema Raum. Als Galeristin habe ich viel mit öffentlichem und privatem Raum zu tun – Der öffentliche Raum ist die Bühne der Kreativität. Ich stellte mir die Frage, wie sich die Beziehung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum durch das Phänomen der sozialen Netzwerke verändert hat.
Was ist die Definition von Cenaconme?
Cenaconme ist ein Sanierungsprojekt für die Stadt und vor allem für die Menschen.
Welches sind die sozialen Aspekte dieser Veranstaltung ?
Es ist eine ganz besondere Veranstaltung für die Stadt, bei der ein ausgewählter Platz in der Mailänder Innenstadt für einen Abend in ein Restaurant-unter-freiem-Himmel verwandelt wird. Kaum einer der Teilnehmer kennt sich, aber alle hatten die gleiche Mühe. Ich erinnere immer daran, dass alles mitgebracht werden muss, ganz wie bei einem Abend mit Freunden mit dem Unterschied, dass alles auf einem öffentlichen städtischen Platz stattfindet. Wir laden zum Essen ein und auch dazu, eine Schwelle zu Überschreiten und die eigene Identität zu überdenken. Cenaconme ist selbst ein Projekt der Schwellenüberschreitung und zwar wird der öffentliche Raum privat, andererseits wird ein Abendessen unter Freunden, welches sonst eher privat bleibt, öffentlich. Genauso wie es sich Ugo la Pietra, schon seit langem wünscht . Er ist Architekt und Künstler, sagen wir ein rundum kreativer Mailänder, eine weitere Figur, an der wir uns inspiriert haben. Sein Credo: „Man bewohnt eine Stadt, indem man sich überall wie zu Hause fühlt“. La Pietra fordert seit 30 Jahren, dass der Stadtraum belebt und nicht konsumiert werden soll, auch wenn es ein bisschen das Gegenteil von dem ist, was in den letzten dreißig Jahren passiert ist. Wir versuchen also eine Theorie in Praxis umzuwandeln und mit jedem Abendessen ein neues Thema aufzugreifen.
Was war die Motivation, eine Veranstaltung dieser Art zu schaffen?
Als Galeristin beschäftige ich mich seit einigen Jahren mit einem speziellen Sektor der Kunst, und zwar der relationalen Kunst (in der sich Dinge wechselseitig beziehen, beeinflussen). Meiner Meinung nach gibt es auch relationale Designer, ich meine damit, dass sich die Geschichte der Kunst und des Designs in den letzten fünfzehn Jahren ganz besonders mit diesem Bereich auseinandergesetzt hat. Es geht um den Zuschauer – unterschieden werden der partizipative – aktiv teilnehmende – und der passive Zuschauer. Der partizipative Zuschauer wird nicht nur Zeuge des kreativen Prozesses, sondern er wirkt an der Entstehung des Projekts oder der Herstellung des Produktes mit. Die Motivation, eine Veranstaltung dieser Art zu schaffen, war es, die relationale Kunst zu erproben, etwas zu erfinden, was es noch nicht gibt – anders als die alltägliche Ausstellung in Museen, Galerien oder auf Messen.
↑Rossana Ciocca links & Alessandra Cortellezzi Foto: Roberto Granatiero
Was bedeutet für dich Kunst?
Das Wort “Kunst”, im Italienischen “Arte”, verweist etymologisch auf eine besondere Bedeutung, es steht für etwas Herausragendes, für etwas, was über das jetzige Dasein hinausgeht. Kunst hat für mich mit morgen, mit der Zukunft zu tun, etwas was weniger mich als die neuen Generationen betrifft. Beschäftige ich mich also mit Kunst, suche ich einen Sprachcode, eine Ästhetik, die nicht mir entspricht, sondern der Zukunft. Ich glaube, dass wir uns zur Zeit in einem großen historischen Wandel befinden, wir haben eine Jahrtausendwende hinter uns. Kunst, wie wir sie bisher studiert und verstanden haben, wird grundlegend anders sein. Meiner Meinung nach werden in den kommenden Jahren alle Kunstrichtungen verschmelzen. Auch die Einstufung von Wesentlichem und Unwesentlichem in der Kunst, so wie wir mit ihr groß geworden sind, wird verschwinden. Die sozialen Netzwerke werden der Sublimation der Kunstwerke ein Ende setzen, es wird keine Elite von Kunsthistorikern und Kritikern mehr geben, die entscheidet, was Kunst ist und was keine Kunst ist. Von dem was kommen wird, ist dies einer der interessantesten Aspekte, vielleicht sind wir uns dessen noch nicht ganz bewusst, aber die sozialen Netzwerke zeigen, dass die Menschen unmittelbar an der Herstellung von Projekten oder eines Produktes teilnehmen möchten, das reine Zuschauen reicht nicht mehr aus.
Was für eine Beziehung besteht zwischen dieser Veranstaltung und darin, Galeristin zu sein? Cenaconme stellt für mich einen freien und offenen, temporären, kreativen Gestaltungsraum dar. In der Galerie lade ich normalerweise einen Künstler dazu ein, seine Kreativität vor Ort umzusetzen, in diesem Fall tue ich es auf einem öffentlichen Platz, wie ein Aufruf in einem Chor: Es ist offen für alle! Das heißt nicht, dass auch alle diese Veranstaltung als kreatives Ereignis begreifen, aber letztendlich weist der Großteil der Teilnehmer die kognitiven Fähigkeiten auf, sich etwas mehr oder weniger Anspruchsvolles einfallen zu lassen.
↑ Cenaconme “Camera Chiara” Foto:Gianni Giudici
Kann man Cenaconme ein Happening nennen?
Ja sicherlich, auch wenn es bewußt besser strukturiert ist, ich würde es auf jeden Fall als relationale Veranstaltung bezeichnen. Ein Happening stellt auf Zufall, Überraschung ab, Cenaconme hat eine genaue Struktur, ein Konzept, auch wenn es nicht so linear abläuft. Bei jedem neuen Dinner achten wir auf das augenblickliche Geschehen, was während des Essens passiert und nehmen so unmittelbar kleine Änderungen vor. Ganz improvisiert gehen wir das Ganze nicht an, da es sich um ein spezifisches Projekt handelt, welches wir nach Hause bringen wollen. Wenn man einen Blick auf die Fotos wirft, sieht es aus, wie die einfachste Sache der Welt, in Wirklichkeit steht aber für alle viel Arbeit dahinter. Am Ende ist es ein recht anspruchsvolles Projekt, einmal für die Teilnehmer und auch für Alessandra und mich, die wir das ganze organisieren.
Warum gebt ihr einen Kleidungscode vor, wie total white, alle mit Hut oder total black? Die Abendessen heißen im Frühjahr und Sommer “La Camera Chiara”, (auch wenn alle „Cena in bianco“ sagen, da ich es anfangs so genannt habe) und im Spätherbst gegenteilig “Dinner in the Dark”. So verabschieden wir uns von der Jahreszeit und vom Licht. Das kreativste Dinner heißt Chapeau, es ist ausgesprochen anarchisch – ohne Regeln. Wir arbeiten mit einem ästhetischen Code, damit die Teilnehmer sich gegenseitig erkennen, es ist ein viraler Aspekt. So ist es offensichtlich: wer uns anschaut, weiß gleich Bescheid. Bei der Anfahrt zum letzten Dinner haben wir uns schon drei Kilometer vor dem Veranstaltungsort in den Autos erkannt. Man fängt dann an, zu lachen und zu grinsen, sich kennenzulernen, das wahre Happening ist eigentlich die Begegnung mit dem Anderen. Aus diesem Grund gibt es diese gemeinsamen Elemente, sie verleihen einem das Gefühl von Zugehörigkeit. Wenn man mir sagt: Deine Gäste sind wunderbar, dann sind sie das zum Einen, weil sie teilnehmen und zum Anderen, weil sie an einem sehr anstrengenden Projekt teilnehmen und das Beste aus Ihrer Kreativität machen. Wenn man sich so viel Mühe machen muss, ist es dann umso schöner, wirklich dabei zu sein, man will dann einfach nur da sein. Es ist auch witzig zu beobachten, wie sich die Tische formieren. Wenn erst einmal alles steht und die Gruppen sich setzen können, tendieren die Leute zunächst dazu, zuzumachen anstatt sich zu öffnen. Das ist wirklich lustig, wenn der Tisch funktioniert, war’s das. Man sieht dann, wie die Einzelnen auf What’s up das Kapitel abhaken und neue Abenteuer planen : )
↑ Cenaconme “Camera Chiara” Foto: Gloria Barbera
Wurde Cenaconme als Format erdacht?
Manchmal überlege ich auch, wie man es am besten definieren kann, ich benutze tatsächlich des Öfteren den Ausdruck Format. Wenn man es aber genau nimmt ist ein Format immer auch ein Programm mit registriertem Urheberrecht. Das trifft auf Cenaconme nicht zu. Wir haben keine Website und auch keinen Blog, wir stützen uns allein auf die Sozialen Netzwerke. Da die Veranstaltung letztendlich von allen mitorganisiert wird, ist es eine Art Kollektiv. Es würde keinen Sinn machen, mit Rechtsvorschriften daher zu kommen. Die würden das Verhältnis zwischen uns (Alessandra und mir) und den Teilnehmern stören. Wir stellen sozusagen die Theorie und das Thema, suchen die optimalen Veranstaltungsorte und übernehmen die Logistik, den Rest machen aber unsere Gäste. Um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen, kommunizieren wir alles wesentliche per E-Mail und über die Social Media. So entsteht das Format praktisch aus den Regeln, das hat aber nichts mit Marketing zu tun. Neulich wurden wir gefragt, ob wir dasselbe in der Stadt Brescia machen könnten, es funktioniert aber nicht wirklich gut. Es soll jetzt das erste Cenaconme in Chile geben und man hat mir gesagt: Mensch, mach da bloß die künstlerische Leitung! Das ist einfacher gesagt als getan. Die wenigen Regeln, die alles ausmachen, sind recht empfindlich, dass können nicht alle respektieren. Die meisten verstehen schon mal gar nicht, wie es ausschließlich mit dem Gebrauch von sozialen Netzwerken funktionieren kann. Das tut es aber, das Netzwerk ist die Schwelle! Hier treffen sich die Leute, hier kreuzen sich ihre Wege. Die eine Grenze ist ihre private Wohnung, dann kommt die Soziale-Netzwerk-Schwelle Cenaconme und dann am anderen Ende die Öffentlichkeit, der öffentliche Raum. Cenaconme hat am Milano Design Film Festival teilgenommen, die schönste, weil zutreffendste Kritik war: Die Theorie ist perfekt… aber sie wurde von der Realität übertroffen…! Das stimmt… ein klarer Fall von Quantenphysik… ich weiß nicht warum, aber so ist’s gelaufen…! Energia…!!!! Si!!!! ….Bello!!! Si!!!
Was bedeutet 2014 das Wort “Teilen” für dich?
Cenaconme!
Danke liebe Rossana!
Autor: Katinka Saltzmann
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